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Am Haloween-Morgen belade ich mein Rad im Appartment, verabschiede mich von Victor und Daniela, zwänge mich in den Aufzug und lasse mich dann bequem 19 Stockwerke (das sind gute 60 Höhenmeter)
abwärts transportieren. Noch am Ausgang fällt mir ein, dass ich noch Victors Schlüssel in der Tasche habe. Also Rad abgestellt und wieder in die Höhenrauschkabine. Das wäre ja auch saudumm
gewesen, wenn ich bei all der Gastfreundschaft noch einen Satz Schlüssel entführen würde.
Mein Weg aus der Stadt ist gepflastert mit Wahlplakaten. In den Parteikassen scheint sich einiges angehäuft zu haben. Nach guten zweieinhalb Stunden Feiertagsverkehr bin ich einigermaßen draußen.
Die letzten Festungen vor den Favelas, den Siedlungen der Hilfs- und Wanderarbeiter, der Arbeitslosen und Arbeitsuchenden, in denen auch die Polizei nicht mehr ganz Herr der Lage zu sein scheint
(Ich werde mehrfach gewarnt.), bilden riesige Shopping Malls, die den unseren und selbst den amerikanischen um nichts nachstehen. Einziger Unterschied ist wahrscheinlich die deutlich
wahrnehmbarere Anwesenheit von schwer bewaffnetem Security-Personal, dass einen als "Gringo" allerdings nicht behelligt. Es gilt vielmehr die Devise: Je dunkler der Teint, desto genauer wird
beobachtet und gegebenenfalls kontrolliert.
Auch auf dem Land sind jedoch selbst kleinste Käffer zugekleistert mit Wahlplakaten und, was bei uns wohl verboten ist, handgemalter "Bandenwerbung" an Straßenbegrenzungen und Bushaltestellen.
Alles in allem nimmt die Propaganda aber auch dem letzten Nest noch ein gewisses Maß an Trostlosigkeit, da überall frische Farben und freundlich lächelnde Gesichter aufleuchten. Nur irgendwann
kann man die Fratzen einfach nicht mehr sehen. Ich bin immer froh, wenn ich in einen neuen Wahlbezirk komme, da dort dann neue Antlitze für sich werben. Interessant dabei ist, wie sich die
örtlichen Abgeordneten und Senatoren mit ihren PräsidentschaftskandidatInnen ablichten lassen. Teilweise herrscht große Nähe und auch Umarmungen sind nicht selten, manchmal ist es aber auch mehr
ein "Gegenüber".
Letzteres könnte durchaus historische Gründe haben. Die sozialistische Kandidatin Michelle Bachelet, die von 2006 bis 2010 schon mal das Land regierte, wurde damals nämlich das Opfer der Intrigen
innerhalb ihrer Partei. Genaugenommen wurde sie von einigen Genossen im Stich gelassen, wenn nicht sogar abserviert. Mir wurde jedoch erklärt, dass es nun eine neue "Einigung" in der Partei gab.
Manche Wahlplakate wirken anders!?
Nun ja, nach zwei Tagen erreiche ich die Küste bei Pichilemu, einem "weltbekannten" Surfort. Die Pazifikwellen sind dort wirklich beeindruckend. Dennoch findet irgendeine internationale
Surf-Meisterschaft an der 8km entfernten "Punta de Lobos", dem Kap der Wölfe, statt. Die Wellen haben dort einen wesentlich längeren Auslauf, so daß die Surfer auf ihren Brettern fast Kilometer
auf ihren Brettern zurücklegen. Leider bin ich einen Tag zu spät und sehe "nur" das Finale der Junioren, aber auch das ist zusammen mit der Kakteenreichen kargen Landschaft, höchst
interessant.
Entsprechend voll ist allerdings auch der Ort. Zumindest bis zum zweiten Tag, da es ein Sonntag ist. Schon abends merkt man deutlich die entschwindenden Wochenendtouristenmassen. Die Hälfte der
Läden und Gastronomiebetriebe hat schon ab 16 Uhr geschlossen und auch an den Stränden bleiben nur noch ein paar wenige Grüppchen bis zum Sonnenuntergang sitzen.
Am Montag Morgen geht es dann auch für mich weiter entlang der Küste nach Süden. Viel sehe ich nicht vom Meer, da auch hier der pazifische Küstennebel zuschlägt. Aber die Straße folgt auch
weniger der Küstenlinie, als vielmehr den von ihr aus ansteigenden Gebirgsketten. Und zwar immer schön auf dem höchsten Punkt. Entsprechend anstrengend ist das Radeln und als ich dann noch auf
Schotterpisten ausweichen muss und die Schilder weniger, die Weggabelungen aber zahlreicher werden, verliere ich mich in einem waldigen Gebirge, wo die Pisten mit 20% Steigung gnadenlos die Hänge
hoch und runter laufen.
Nach zwei Stunden umherirren ohne einen Menschen zu treffen, komme ich wieder auf eine größere Straße. Irgendwann erreiche ich "Virchuquen", das ich schon vor Stunden hinter mir gelassen habe
wollte, und entscheide mich dann auch noch, eine 20km Etappe weiter in den Abend nach "Licanten" zu fahren. "Belohnt" werde ich mit einem zwar asphaltierten, aber dafür umso höheren Pass der
diesmal sogar einen Namen, nämlich "Siete Cuestas" (Sieben Hänge), trägt und oben nach 350 Höhenmetern mit konstanter Extremsteigung mit einer Heiligenfigur gekrönt wird.
Einer der Gründe, dass ich in diese Situationen so "reinstolpere", ist sicherlich, dass die einzige Karte, die ich käuflich erwerben konnte, keinerlei Details über die Streckenführung preisgibt.
Später werde ich eine etwas detailiertere Karte erwerben, die aber leider nur unwesentlich besser ist. Also geht es weiter im "Blindflug" nach Süden.
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