3.1. Santiago de Chile

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Ich lande morgens um 8 Uhr in Santiago de Chile und habe sogar den Umständen entsprechend "lange" (etwa 3 Stunden) geschlafen. Die Delta-Flugbegleiter sind gut gelaunt, sprechen Englisch und Spanisch gleichermaßen flüssig und sind nicht knauserig mit der Ausgabe von Extra-Rationen an Kaffee, Wasser oder auch Wein. (Vielleicht sollte ich meine Delta-Abneigung doch noch mal überdenken?!?)
Am Baggage-Claim ist wieder mal alles vollständig versammelt. Mein riesiger Gepäcksack und meine Fahrradkiste.
Ich beginne mein Fahrrad zu montieren, während die anderen Mitreisenden sich in eine lange Schlange vor dem Zoll bzw. dem Schalter des Agrarministeriums einreihen.
Aus dem Augenwinkel sehe ich wie langsam es voran geht und beschließe, mir Zeit zu nehmen um nicht auch noch anstehen zu müssen.
Die Zeit brauche ich auch, da sich herausstellt, dass die beiden hinteren Schenkel des Rahmens von irgendetwas oder irgendwem deutlich zusammengedrückt wurden. (Ich stelle mir vor, wie ein frustrierter Gepäckarbeiter schadenfroh auf meiner Fahrradkiste herumhüpft. Vielleicht waren es aber auch nur zwei XXL-30kg Koffer der Business- oder First-Class, die auf der Hintergabel meines Rades lasteten.)
Das Hinterrad einzubauen ist jedenfalls eine schier endlose Prozedur. Irgendwann finde ich den richtigen Hebelgriff und es sitzt.
Mit fertig gepacktem Fahrrad nähere ich mich dem Zollbereich. Jetzt ist doch etwas Eile angesagt, da bereits eine weitere Maschine aus Spanien gelandet ist und deren Passagiere bereits auf dem Weg zum Ausgang sind. Ich muss mein Gepäck wieder absatteln, da alles durch einen Röntgenscanner muss. Das Fahrrad darf ich dann vorbeischieben.
Vorher habe ich schon sämtliche meiner mitgeführten Lebensmittel anhand einer Liste auf ihre Einreisetauglichkeit überprüft. Der Apfel, der in Halifax noch in der Tonne landete wird diesmal vorher noch verzehrt und somit "intra corpore" importiert. Draußen bleiben muss lediglich Andis "Filterfixer", ein Stück geschnitzte Astgabel aus grönländischer Weide zum, wie der Name schon sagt, Fixieren eines Kaffee- oder Teefilters.
Holz darf nicht eingeführt werden. Gegen den Holzgriff meines Opinellmessers haben sie jedoch nichts.
Es wird hier peinlichst darauf geachtet, dass Einreisende keine frischen Lebensmittel oder andere Lebewesen oder Erde in's Land einführen. Natürlich geht es dabei nicht um die Lebensmittel an sich, sondern um Viren, Bakterien und Algen, die eventuell eine Epedimie auslösen könnten.

Ich komme aus dem Flughafengebäude und werde von allen Seiten angeglotzt. Gut dass ich vorher noch Geld an einem ATM im Terminal "gezogen" habe und somit gleich durchstarten kann.
Es ist warm, mittlerweile schon 9:30 Uhr und ein erster nebeliger Dunst entwickelt sich.
Euphorisch starte ich Richtung Stadtmitte Santiago und stelle fest, dass ich schnell auf einer Autobahnähnlichen 4-spurigen Straße lande, die mir wie eine Autobahn vorkommt. Das gelegentliche Hupen überholdender Fahrzeuge bestärkt nicht gerade mein Gefühl, hier willkommen zu sein. Irgendwann taucht eine Mautstelle der Autobahn mit einer Seitenzufahrt auf. Ich rette mich dort hinein und suche Ansprechpartner. Meine spanischen Vokabeln habe ich schon vorsortiert und frage nach einer Möglichkeit  von hier aus in die Innenstadt zu kommen. "Mit dem Fahrrad???" ist die leicht entsetzte Antwort. Dank meiner Freeway-Erfahrungen in den USA bin ich ja mitterweile einiges gewöhnt. Nur nicht die Südamerikanische "ahnungslose" Hilfsbereitschaft. Die drei Angesprochenen haben keine Ahnung, dass die vierspurige Straße vom Flughafen zum Stadtrand von Santiago keine Autobahn ist, und deshalb für Fahhrräder auch nicht verboten ist.
Trotzdem wird lange diskutiert. Ich verstehe etwa ein Viertel, fühle mich aber zumindest in meinem Anliegen verstanden und warte auf das Erscheinen einer LÖSUNG!!!
Die sieht dann so aus, dass ich mein Rad auf den Pickup einer vierten Person, die wohl gerade Feierabend hat, lade und er mich an einen Punkt bringt, von dem aus ich leicht in die Innenstadt finden kann. Ok, da mein Spanisch ganz gut zum Fragen, aber weniger zum Ablehnen taugt, lasse ich diese Prozedur über mich und mein Fahrrad ergehen. Alle Beteiligten sind etwas verwundert, als ich anfange, die Satteltaschen zu entfernen. Als sie den Rest dann auf den Pickup wuchten, glaube ich eine Spur von Verständnis in ihren Gesichtern zu erahnen. Jedenfalls wird ihr Respekt mit jeweils einem persönlichen Händedruck besiegelt.
So steige ich in den Pickup und lasse mich kutschieren. Rechts schaue ich immer sehnsüchtig auf den breiten Seitenstreifen und denke mir, wie unnötig das alles ist. Außerdem habe ich vom Bankomat nur große Scheine (10.000 Chilenische Pesos - etwa 15 EURO) ausgespuckt bekommen, weshalb es mit dem "Trinkgeld" schwierig werden wird.
Von Trinkgeld oder Kaffeekasse will der Chauffeur aber gar nichts wissen. Er hilft mir beim Abladen des Rads und des Gepäcks und schüttelt mir kräftig die Hand, weist mir noch mit einigen Worten die Richtung und lässt mich an der Calle San Pablo stehen. Ok, Seitenstreifen gibt es jetzt keinen mehr, aber ich habe meine Position auf dem Stadtplan gecheckt, und weiß wohin ich muß.
Das Ernüchternde ist, auf den Straßen Santiagos herrscht Krieg. Die Autofahrer gegen die Radfahrer. Die Radfahrer gegen die Fußgänger, und auch die Fußgänger haben mit der motorisierten Fraktion ihre "Hühnchen zu rupfen".
Auch wenn Chile wohl das einzige Land Südamerikas ist, in dem rote Ampeln und Zebrastreifen respektiert werden, ist der Umgangston doch eher rau. Ich werde geschnitten was das Zeug hält. Vor allem Taxi- und Kleinbusfahrer fallen durch eine äußerst aggressive Fahrweise auf. Aber irgendwann verstehe ich den Umgangston und kontere entsprechend. Die Regel heißt mache keinen Fehler, denn den nutzen andere gnadenlos aus. Dann wieder in's Spiel zu kommen, kann äußerst langwierig sein. Spaß macht das zwar nicht, aber es bringt einen weiter.
Ich sehe Marketender mit ihren schwer bepackten Handwagen diesen Verkehr meistern und denke mir nur: "Das sollte auch für dich mit dem Fahrrad machbar sein. 
So erkunde ich einen Tag Santiago, da ich erst gegen Abend mit Victor verabredet bin. Ich drehe eine ausgiebige Runde durch die Innenstadt und fahre dann Richtung Nordosten am Gletscherfluß "Mapucho" entlang und komme in ruhigere und weniger dicht bevölkerte Gegenden.
Abends suche ich mir dann den  Weg zu Victors Apartment. Es liegt genau gegenüber von einem der größten Parks, "Parque Bernardo O'Higgins" an einer der Verkehrsadern Richtung Süden.
Es ist ein ausgesprochenes Hochhaus (über 20 Stockwerke) und Victor wohnt im 19ten. Ich werde allerdings von Daniela, seiner Verlobten, empfangen und staune nicht schlecht, als ich mit meinem bepackten Fahrrad aus dem Aufzug im 19. Stockwerk aussteige und in ein kleines Appartment komme, in dem aber jede Menge Platz ist, da nicht viel rumsteht. Eine Wand ist schon mal für die Fahrräder reserviert und ich stelle meinen Kram mal einfach dazu.
Nach etwa einer Stunde kommt Victor von der Arbeit und wir gehen alle drei zusammen zur Pizzabude, Pizza bestellen. Dazu gibt es Ananaslimonade.
Die beiden erklären mir die politische Situation angesichts der bevorstehenden Wahlen am 17.11.2013. Sie spielen mir Musik von der chilenischen Folk-Progressive Rock Formation "Los Haivas" vor und erwähnen Namen wie "Violeta Parra" und "Victor Jara".

Da ich am nächsten Tag dem "Museo de la Memoria y los Derechos Humanos" (Museum der Erinnerung und der Menschenrechte) einen Besuch abstatte taucht vor allem letzter Name häufiger auf, da er eines der prominenten Opfer des Pinochet-Putsches war. Er wurde als Stellvertereter der Allende-Unterstützer auf's Grausamste gefoltert und schließlich ermordet und in einem Massengrab verscharrt. Seine Witwe mußte sich heimlich um ein ordentliches Begräbnis kümmern. Der Pinochet-Putsch fand übrigens am 11. September(!) 1973 statt .
Ich weiß noch genau wie mich der Film "Missing" (auf deutsch: "Vermißt") von Costa-Gavras mit Jack Lemon und Sissy Spacek in den Hauptrollen, gefesselt und die nächtsten Wochen beschäftigt hat, wo es genau um dieses Ereignis und das Schicksal eines jungen amerikanischen Paares, das gerade in Chile ist, geht. http://en.wikipedia.org/wiki/Missing_%28film%29

Auch in den letzten Monaten gab es hier jede Menge Demonstrationen der Studenten, da das Bildungssystem dringender Reformen bedarf. Einige davon wurden mit Tränengas und Schlagstöcken niedergeknüppelt. Häufig hört man auch von Foltermethoden, die von den staatlichen Organen angewendet werden. Unter Pinochet wurden seit 1973, nicht zuletzt durch den Einfluß der "Chicago Boys", einer Gruppe chilenischer Wirtschaftswissenschaftler, die großteils bei Milton Friedman in Chicago studiert hatten, immer mehr Teile des Staatsapparats privatisiert. Heute würde man es vielleicht "Outsourcing" nennen.
Für die Bildung bedeutete das zunächst mal die Einführung von Studiengebühren. Wer dazu noch an einer, der aus dem Boden sprießenden Privatuniversitäten studieren will, kann ohne ein wohlhabendes Elternhaus in der Hinterhand, nur mit Hilfe der Banken ein Studium absolvieren. Diese Bildungskredite sind aber im Gegensatz zu unserem BAFöG bedeutend höher und in jedem Fall laut einem Finanzierungsplan zurückzuzahlen.
Durch eine schlechte Wirtschaftslage kann es dann schon mal passieren, dass ganze Jahrgänge von Absolventen keinen Job finden und trotzdem das Geld für die Rückzahlungsraten aufbringen müssen. In manchen Fällen werden Immobilien und Grundstücke verkauft, um die Bildungsschulden der Kinder zu begleichen. Wenn dann noch ausländische Kandidaten bei der Besetzung offener Stellen bevorzugt werden, da die Ausbildung dort besser (obwohl günstiger) ist, entwickelt sich verständlicherweise eine gewisse Unzufriedenheit.

Da aber am 17.11. Parlaments- und Präsidentswahlen anstehen, ist die Situation gerade recht friedlich. Alles kümmert sich um den Wahlkampf. Auch die Studenten, deren Anführer der letzten Jahre, jetzt über verschiedene politische Listen den Weg in's Parlament suchen, warten ab, wie die Mehrheiten nach der Wahl ausfallen werden.

Genaueres zu den politischen Lagern erfahre ich später in Conception. Dort wird das Thema dann noch mal auftauchen. Inklusive der verflochtenen Geschichte der beiden Präsidentschaftskandidatinnen, die aus einem Shakespearedrama stammen könnte.

Auch hier herrscht das Haloweenfieber. An meinem letzten Abend koche ich für Daniela und Victor, während die sich um ihre Kostüme für die morgige Fete kümmern. Hier ist nicht nur Allerheiligen, sondern auch schon der vorangehende Reformationstag ein freier Tag für die meisten Arbeitnehmer. Dieses Jahr ergibt das also ein superlanges Wochenende in einer Gesellschaft, die durchschnittlich mit etwa zwei Wochen Urlaub im Jahr auskommen muss.
Nach dem Abendessen machen wir noch einen Ausflug auf's Dach des Hochhauses. Das ist über Stockwerk 24 und wirkt mit seinem Ausblick wie die Plattform eines Ausssichtsturmes. Wir befinden uns weit über der Stadt und das nächste Hochhaus scheint kilometerweit entfernt. Der unbeheizte Pool auf dem Dach stellt bei 12°C und einem starken Westwind allerdings keine Versuchung dar.

Chile
Chile
Santiago de Chile
Santiago de Chile
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"Mercado Central"
"Mercado Central"
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Kunstmuseum
Kunstmuseum
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Am "Rio Mapucho"
Am "Rio Mapucho"
Wettervorhersage
Wettervorhersage
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Das höchste Gebäude Südamerikas
Das höchste Gebäude Südamerikas
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Marketender
Marketender
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Militärakademie (auch hier wurde/wird gefoltert)
Militärakademie (auch hier wurde/wird gefoltert)
"Parque Bernardo O'Higgins"
"Parque Bernardo O'Higgins"
"Victor" als "Jimi Hendrix"
"Victor" als "Jimi Hendrix"
"Victor" und "Daniela" auf dem Dach
"Victor" und "Daniela" auf dem Dach
vom Dach
vom Dach

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