2.5. San Joaquin Valley

...

Als Abschluß meines San Francisco Aufenthalts bin ich noch mit Nicki und Rebecca in
der Nachbarstadt Daly zum Brunch verabredet. Obwohl ich zwei Stunden für die 25
Kilometer veranschlage, komme ich viel zu spät. Die Fahrradwegschilder sind eine
Katastrophe und unglaublich lückenhaft. Meine Versuche mich am Raster zu orientieren
scheitern mehrfach an Einbahnstraßen oder Sackgassen, die auf meinem Stadtplan nicht
zu erkennen sind. Irgendwann komme ich schließlich an. Sie wohnen hoch über dem Ort
und haben von ihrem Viertel einen fantastischen Blick auf die Stadt und die Bay. Der
Garten grenzt an ein Naturschutzgebiet, so daß von dort keine weitere menschliche
Besiedlung droht. Das ist natürlich auch praktisch für Gigi und Jimi, die beiden
Hunde.
Nicki kenne ich noch aus Kindertagen. Sie und ihre beiden Brüder Jens und Urs samt
Ben und Röschen, den Eltern, waren immer unser Lieblingsbesuch. Und wie das Leben so
spielt, verlieren sich so manche Fäden in den Winkelzügen des Lebens. Ich habe immer
wieder gehört, das sie jetzt in den USA lebt. Und als meine Schwester Conny mir dann
erzählte, dass sie in San Francisco lebt, lag es natürlich absolut nahe mal wieder
Kontakt aufzunehmen.
Sie ist gerade sehr beschäftigt, da sie neben ihrer therapeutischen Arbeit, die
gerade auch noch vor einem Umbruch steht, zur Zeit an einem Theaterstück mitwirkt,
und dafür abends noch Probentermine hat. Trotzdem ist es ein schönes Wiedersehen, und ich bin erstaunt, wie einfach sich wieder eine Vertrautheit einfinden kann, nach all den Jahrzehnten.

Von Daly kämpfe ich mich aus dem Gewimmel der gerasterten Vorstädte. Je weiter ich
rauskomme, desto höher wird der Anteil der spanisch sprechenden Menschen. Auch die
Schilder und Werbeplakate gehen immer öfter von der Zweisprachigkeit zum "solo
español" (nur Spanisch) über. Kalifornien ist schon fast in der Hand der Hispano-
Amerikaner. Angeblich haben über 60% der Einwohner entsprechende Wurzeln und
sprechen als Muttersprache Spanisch. Außerdem soll Mexico schon Besitzansprüche
angemeldet haben.
Schlummert da etwa ein Krisenherd vor der eigenen Haustür, oder vielmehr im
Hausflur? Nein, erstens hätte Mexico militärisch gar keine Chance gegen die
Weltmacht USA, zweitens befinden sich in Kalifornien zwar jede Menge Obst- und
Gemüse-Plantagen, aber eben auch bspw. das Silicon Valley und Hollywood - absolute
Wirtschaftsgiganten und Global Player, und drittens verstehen sich die hier lebenden
Mexikaner als durchaus privilegiert gegenüber ihren Landsleuten im Mutterland und
der Dollar ist als Zahlungsmittel auch nicht von Nachteil.
Es gibt hier wirklich einige Ecken, wo man mit Englisch nur begrenzt weiterkommt.
Einmal beispielsweise, in einem mexikanischen Supermarkt, versuche ich
herauszufinden ob ich das Obst und Gemüse selber abwiegen muss oder ob das an der
Kasse geschieht, da ich keine Waage mit Knöpfen sehe. Also spreche ich einen älteren
Herren an, der gerade bei den Tomaten steht und frage ihn auf Englisch. Als Antwort
bekomme ich ein etwas verängstigtes Achselzucken und ein paar gemurmelte Brocken
Spanisch, die wie ein "He?, que, no entiende nada" (Häh, was? Ich verstehe gar
nichts!) klingen. Ich merke, dass ich ihn in Verlegenheit gebracht habe und wende
mich in Richtung Kasse, um dort zu fragen. Er murmelt aber immer weiter und langsam
wird aus dem schüchternen alten Mann ein verärgerter cholerischer Greis, der immer
lauter vor sich hin schimpft.
Irgendwann kommt dann ein Angestellter und beruhigt den alten Herrn. Dann kommt er
zu mir und meint, dass der Mann kein Englisch spreche und ablehne es zu lernen. Auch
sonst wäre er "poco loco"(etwas merkwürdig) und ich solle das nicht persönlich
nehmen. Ach ja, und das Obst wird selbstverständlich an der Kasse gewogen. Na danke,
dann haben wir's doch! ¡Muchas gracias!
Es fühlt sich an wie in einer Chinatown, wo man auch davon ausgeht, dass viele Leute
nur Chinesisch spechen. Als Vorbereitung für Südamerika nutze ich dann die Gunst der
nächsten Tage um mein Minimal-Spanisch schon mal auf Trab zu bringen. Aber schon ein
einfaches "¿Quanto es, por favor?" (Was kostet das, bitte?) aus meinem Gringomund
sorgt für so manche verstörten Blicke. Ich habe dann das Gefühl, dass sie das Gefühl
haben, ich wolle sie veräppeln. Ein reichhaltiger Nährboden für so manches
Mißverständnis. Die Parallelgesellschaften laufen hier so gut nebeneinander her,
dass ein Überschreiten der Grenze eher Probleme schafft, als löst.


Das "kalifornische Längstal", dessen Südhälfte, das "San Joaquin Valley" ist, wird
flankiert von zwei Gebirgszügen. Im Westen, die Küstenkordillieren und im Osten die
Sierra Nevada mit ihren verschneiten Gipfeln.
Als ich vom Kordillierenpass runterkomme fahre ich an einem riesigen Stausee, dem
"San Luis Reservoir" entlang, das wie in einer Mondlandschaft liegt. Der Kontrast
besteht hauptsächlich darin, dass man eine riesige Menge Wasser in einer ansonsten
absolut trockenen Landschaft sammelt. Noch stärker wird das später in der Senke,
wenn das Gletscher- und Hochgebirgswasser der Sierra Nevada in bis zu zehn Meter
breiten Kanälen durch die ariden Anbauflächen strömt und durch ein ausgeklügeltes
System von Pumpen, Rohren und Sprenklerdüsen, das gesamte Areal genau so bewässert,
dass jede Pflanze ihr Pensum an Wasser bekommt.
Weiter unten steigt mir dann der Geruch von Erdbeeren in die Nase. Und schon sehe
ich die riesigen Felder und deren lebenserhaltende Wasseradern. Frische Erdbeeren im
Oktober? Keine Ahnung wie das geht. Aber sie sind echt. (Einen Monat später werde
ich in Chile wieder mit frischen Erdbeeren zu tun haben. Dort ist es dann aber
Frühsommer und das passt dann ja wieder.)
Ein weiteres Agrarprodukt, dessen genaue Herkunft ich aber leider nicht ermitteln
konnte, sind die Zangenförmigen Dornen, die sich tief in das Gummi meiner Radmäntel
graben und bei jeder Umdrehung etwas tiefer in das Material eindringen, bis der
Schlauch ein Loch hat und die Luft langsam entweicht.
Den ersten Platten (eigentlich mein zweiter, der erste war ein Nagel in Oregon)
flicke ich noch routiniert locker. Als dann aber nach bereits fünfzehn Minuten der
Reifen erneut schlapp macht, beginne ich an meinen Flickkünsten zu zweifeln. Bis ich
kapiere, dass beide Räder voller Dornen stecken, wird noch ein drittes Loch gestopft
und dann beide Mäntel genau abgesucht und mit Hilfe einer Pinzette von allen
Eindringlingen befreit.

An einer weiteren Talsperre campe ich in einem Statepark. Da ich zunächst den
falschen der vier Campsites ansteuere, treffe ich erst bei Dunkelheit ein. Als ich
morgens wach werde ist mein Zelt voller Ameisen. Genauer gesagt führt eine
Ameisenautobahn von einem Eingang über und unter meiner Isomatte und meinen
Schlafsack zum anderen Eingang. Ich versuche die Insekten umzuleiten, aber das führt
nur zu einem noch größeren Andrang an den Engpässen, also lasse ich sie erst mal
weiterlaufen.
Später beim Zeltabbau schüttele ich bestimmt an die tausend von ihnen aus den
Zeltecken, denn sie hatten sich, wahrscheinlich aufgrund des neuen zu sondierernden
Terrains, bereits überall ausgebeitet. Noch in den nächsten Tagen begegne ich immer
wieder einzelnen, leicht paralysierten Exemplaren in meinem Zelt oder sonstigem
Gepäck.

In einem weiteren Statepark bin ich, weil es Mitte der Woche ist, mal wieder der
einzige Gast. Ich zahle dann per Selbstregistrierung im Umschlag den Hiker&Biker-
Preis der Küste (s.u.), auch wenn er nicht auf der Tafel steht, und lege es damit
auf eine Diskussion an, zu der es leider nie kommt. Der Preis für einen Campsite ist
in den USA meistens unabhängig von der Anzahl der Personen an einen Zeltplatz
gekoppelt. Das ist dann eine Pauschale von 20-40 Dollar, je nach Platz und Lage.
Teilweise gestatten die Plätze bis zu zwei Fahrzeuge und bis zu acht Personen pro
Parzelle. Anhänger mit Booten, Quads, oder auch Wohnwagen werden da nicht
mitgerechnet.
Dementsprechend dicht und voll sind viele Plätze. Und dementsprechend uneinsichtig
bin ich, wenn es darum geht den vollen Preis für eine Parzelle nur für mich und mein
vergleichsweise kleines Zelt zu bezahlen. Achso, und natürlich das Fahrrad.
In Oregon und Kalifornien gibt es in den Stateparks an der Pazifikküste sogenannte
"Hiker/Biker-Areas", wo man für 5-6 Dollar pro Person in einem bestimmten Areal
zelten kann. Dort sind keine Parzellen abgegrenzt und wenn es voll wird, stehen die
Zelte eben etwas dichter, so wie wir das auf unseren Campingplätzen eigentlich auch
kennen. Nur Wohnmobil- und Caravanplätze haben dort eine Nummer wegen der Strom- und
Sanitärleitungen.

Am nächsten Morgen, es ist der 1. Oktober, irrt ein Fahrzeug mehrere Runden auf dem
Platz umher. Eine Frau steigt aus und fragt mich, ob ich die Ranger heute schon
gesehen hätte. Ich verneine das und sie stellt sich als "Renee" vor. Sie ist
häufiger hier und verbringt ihre Tage mit Sport, Yoga, Musik und Schreiben. Sie ist
nach eigenen Angaben Schriftstellerin und, vielleicht um das zu untermauern, stopft
sich erst mal eine Cannabispfeife. Sie fragt kurz, ob das ok ist, und nach meinem
Einverständnis zündet sie das Kraut an. Sie erzählt von ihren chronischen Schmerzen
und ihrer "medical indication", einer ärztlichen Bescheinigung, die sie in
Kalifornien zum Cannabiskonsum berechtigt. Wir kommen auf Süchte zu sprechen und ich
erzähle von meinem jahrzehntelangen Zigarettenkonsum und der Befreiung die ich noch
heute empfinde, wenn ich an die selbstgewählten Zwänge dieser Zeit zurückdenke. Sie
pflichtet mir bei und meint noch, dass der Rauch mich jetzt hoffentlich nicht
belästigt hat.
Ich stand die ganze Zeit mit dem Rücken zum Wind und wir sind draußen. Da kann mann
ganz gut ausweichen, aber schön, wenn sich Raucher Gedanken machen ;-). Jedenfalls
ist "Mary-Jane", wie sie die Droge gerne familiär beim Vornamen nennt, nicht so
"böse", da es ja eine schmerzlindernde und relaxierende Wirkung hat.
Wie dem auch sei, ich komme ganz gut ohne zurecht und es fällt mir schwer
irgendwelche Substanzen vergleichen zu wollen. Scheinbar ist das ja in den
verschiedenen Teilen der Welt auch genau deshalb nicht so einheitlich geregelt.

Wie schon vorher erwähnt ist es in den meisten Teilen der USA üblich, Alkohol erst
ab 21 zu erlauben, während zumindest in Kalifornien und einigen anderen liberalen
Staaten, der Kannabiskonsum durch eine medizinische Indikstion legalisiert werden
kann.
"Curt", ein junger Radler aus San Diego meinte dazu: "You can smoke grass if you
have an indication, you can vote and die for your country if you are 18, but to have
a drink you must be 21." (Du kannst Gras rauchen wenn du eine Bescheinigung hast, du
kannst wählen und für dieses Land (im Krieg) fallen wenn du 18 bist, aber um Alkohol
zu trinken musst du 21 sein.)
Übrigens der selbe "Curt", der eine Tramperin in Oregon davor gewarnt hat, dass
Hitchhiking (Trampen) in Kalifornien verboten wäre. Wenn die Polizei einen erwischen
würde, käme man in's Gefängnis. Auf meine Nachfrage, wie lange man denn inhaftiert
würde, meinte er "ein bis zwei Wochen". Das kommt mir dann doch etwas drastisch vor
und ich beschließe es mit den Gesetzen in Kalifornien sehr genau zu nehmen. Erst
nach einigen Wochen und jeder Menge Tramper an den Straßenrändern, merke ich dass
viele Leute einfach Quatsch erzählen und es auf Nachfrage nicht mal zugeben können.
Die Tramperin in Oregon hat jedenfalls ihre Route geändert und um Kalifornien einen
weiten Bogen gemacht. Zumindest war das der Plan, als ich sie das letzte mal sah.
Eventuell wurde sie ja noch eines Besseren belehrt.




"The Grid" Das Raster
"The Grid" Das Raster
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Bei "Half Moon Bay"
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Pumkin Patch
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Am Strand
Am Strand
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Vogel
Vogel
Lighthouse
Lighthouse
Gewächshäuser
Gewächshäuser
Transport
Transport
"San Luis Reservoir"
"San Luis Reservoir"
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Transport #2
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"Competition"
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"Freeway"
"Freeway"
"Cottonfarm"
"Cottonfarm"
Bewässerungskanal
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Shop
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