1.5. Neufundland

...

Die Fähre von North Sydney nach Argentia tuckert eine Nacht lang durch dichten Nebel. Bis zum Einbruch der Dunkelheit ist aber noch einiges von Cape Breton Island zu sehen.
Sehr nebelig ist auch meine Begegnung mit Roshni. Sie ist auch mit dem Rad und leichtem Gepäck am Hafen. Wir wechseln in der Stadt ein paar Worte und dann trennen sich unsere Wege erstmal wieder, da Roshni ihr Ticket nicht findet und deshalb durch ein anderes Tor muss als ich. Mit dem üblichen  "See you" verabschieden wir uns. Vor der 16-stündigen Überfahrt nach Argentia gibt es noch einiges zu erledigen: Einkaufen, Umpacken, Schlafsack bereithalten... Duschen (es gibt doch tatsächlich eine Dusche im Ferryterminal), rasieren und natürlich den Check-In nicht verpassen. Alles läuft glatt - als Radfahrer darf man sich hier sogar an allen Schlangen vorbeidrängeln und dann in Ruhe mit den zahlreichen Motorradfahrern sein Zweirad befestigen. Während die motorisierte Fraktion mit den üblichen Zurrgurten an im Boden eingelassenen Haken ihre
Heiligtümer sichert, sucht sich der einfache Pedalradler eine Nische zwischen Ölfass, Bordwand und Pappkartons und tariert sein Gefährt in einem etwas steileren Winkel als sonst, um einem Umkippen bei hohem Seegang vorzubeugen. Als ich fertig bin, sehe ich Roshnis Rennrad schon in einer anderen Ecke stehen, allerdings werden wir uns auf der Fähre nicht begegnen. Ich lagere mein Gepäck in einem der Pullmansitz-Lounges und erkunde das Schiff. Später lausche ich einem echten Newfie (Neufundländer) - Entertainer in der Bar. Die Musik klingt sehr Irisch, die Texte sind von hier und fast alle singen laut mit. Um 23:00 Uhr ist ungewöhnlich früh Feierabend, und ich verziehe mich in meine Sitzlounge, blase meine Isomatte auf und richte mich auf dem Fußboden zum Schlafen ein. Keine Viertelstunde später werde ich von der Security mit den Worten: "Sir, you can't lie on the floor here" geweckt und versuche mich ordnungsgemäß in einen der Sitze zu platzieren. Leider ist der Winkel zwischen Sitzfläche und Lehne für meinen empfindlichen Rücken mehr als ungeeignet. Nach einigem Probieren verwerfe ich diese Location, da zwei andere Passagiere der "Holzklasse" sich inzwischen in's Gepäckregal gelegt haben und dadurch der Diskussion mit den Aufpassern entgangen sind. Das Regal ist jetzt voll. Das Gepäck steht davor.
Ich erinnere mich an andere Fähren und finde in der Bar eine freie gepolsterte Bank zwischen jeder Menge anderer Schläfer. Die Security patrouliert hier scheinbar nicht.
Am nächsten Morgen ist draußen alles weiß. Das Schiff schleicht dahin und kommt mit zweistündiger Verspätung in Argentia an. Auch dort ist noch alles in dichten Nebel getaucht. Als ich in Argentia aus der Fähre komme, ist nach dem Hafengelände nur gähnende Leere. Kein Haus, kein Café, kein Frühstück. Der Ort Placentia ist etwa 10km entfernt und so fahre ich erstmal los. An der nächsten Abzweigung verwechsle ich wegen eines Kurzbesuchs der Touristinformation die Abzweigungen und fahre direkt Richtung St. John's, der Hauptstadt von Newfoundland weiter. Also verschiebe ich das Frühstück um 35km, das ist dann nämlich die nächste Gelegenheit. Kurze Zeit später holt mich Roshni ein und wir fahren gemeinsam bis zum TCH (Trans Canada Highway). Der Seitenstreifen der Straße ist breit und eine Unterhaltung deshalb gut möglich. 
Roshni kommt aus NY und studiert seit einem Jahr in St.John's, nachdem sie nach der Schule vier Jahre durch die Welt gegondelt ist. Sie lädt mich ein, wenn ich nach St. John's komme, könne ich bei ihnen wohnen. Es ist fast immer ein Zimmer oder die Couch frei. Ich bedanke mich schon mal im Vorraus für das Angebot und kündige mich lose für überübermorgen an.
 
Tatsächlich schlage ich dann drei Tage später in "Long's Hill" auf. 
Ich bin gewarnt, dass es keine Klingel gibt, die Tür aber nicht abgeschlossen ist. Also gehe ich rein und mache mich bemerkbar. Von oben höre ich Stimmen die sich unterhalten, mich aber offenkundig nicht hören. Ich werde etwas lauter und klopfe nochmal von innen an den Türrahmen. Dann kommt Lana die Treppe runter, stellt sich vor und meint ich müsse ja wohl der Radler von der Fähre sein. Kurz danach erscheint Roshni und Craig, und zusammen verstauen wir mein Rad senkrecht im ziemlich vollgestopften Schuppen, der natürlich auch nicht abgeschlossen wird ("let's trust the people of St. John's") und bringen meine Taschen in den zweiten Stock des Hauses. Von dort hat man einen wunderbaren Blick über sie Stadt, den Hafen und auf den "Signal Hill" (sozusagen das Wahrzeichen der Stadt).
Ich werde in Roshnis Zimmer einquartiert, da sie zur Zeit drüben bei Lana im Haus übernachtet. Und umgehend werde ich mit jeder Menge Leute bekannt gemacht, die hier in so etwas wie einem Hausnetzwerk wohnen. 
Über einen Hinterhof kommen wir in den Garten von Lana und Marybeth. Außerdem wohnt hier gerade Craig, der aber nur für ein paar Tage zum "Couchsurfen" aus Montreal hier ist. Er wohnt in dem Zimmer von jemandem, der ein riesiges Rennrad mit 30"-Reifen und einen riesigen 5-Saiter E-Bass hat. Neugierig frage ich, ob das ein sehr großer Mensch wäre, mit dem sie hier wohnen? Als Antwort erhalte ich: "nein, so groß wie du, aber er mag große Dinge".
Also doch kein Riese im Haus.
 
In einem weiteren Haus gegenüber von Lana wohnen Chad und Rebecca und zur Zeit Erik aus Heidelberg. Auch er ist hier über das Couchsurfing Netzwerk gelandet. Er ist allerdings schon seit letztem Herbst in Canada unterwegs und schon eine Woche in der Stadt.
Rebecca hat dieses Jahr angefangen im Hof Gemüse anzubauen. Da St. John's in den letzten Jahrhunderten allerdings mehrfach niedergebrannt ist, warnen Biologen und andere Wissenschaftler davor, in diesem Boden aufgezogene Pflanzen zu verzehren. Deshalb steht der Hof voller Eimer, Töpfe, Kästen und sogar ein kleines selbstgebautes Gewächshaus findet sich in einer Ecke. 
Kostproben des Angebauten gibt es abends zu essen. Wir machen einen sehr bunten Salat, Gemüseeintopf, gebratene Auberginen. Und was sonst noch so in den Mülltonnen der hiesigen Supermärkte landet. Das Geheimnis heißt "dumpstern". Man durchstöbert nachts oder früh morgens die Abfallcontainer der großen Supermärkte. Palettenweise gerade abgelaufene Produkte landen so in den Kühlschränken und Regalen dieses Hausnetzwerks und werden natürlich auch umgehend verzehrt oder verarbeitet. Das einzige was sie noch nicht erbeutet haben war abgelaufenes Bier, aber sonst gab es wohlo schon alles.
Irgendwann nach dem Essen kommen wir auf unser Alter. Ich bin natürlich der Methusalem in der Runde und Chad meint nur mit seinem trockenen Humor: "Age, that's just a number". (Alter, das ist nur eine Zahl). Danke Chad, sehr sympathische Sichtweise, irgendwie auch typisch Newfiemäßig.
 
Bei Roshni wohnen ihre Vermietern Beverly, ihr Exmann Andy und deren Tochter Erin, die gerade ein Jahr auf einer Schafsfarm in Maine verbracht hat und nun wieder zu Hause eingezogen ist, um sich nun der Töpferei zu widmen. Alle anderen Bewohner sind entweder gerade auf Reisen oder leben sowieso nur temporär hier.
Erin und Beverly begegne ich erst am zweiten Tag beim Frühstück in der Küche. Es herrscht eine sehr offene und positive Atmosphäre. Keinerlei Misstrauen, keine demonstrative schlechte Laune. Ich fühle mich, nicht nur wegen der mehrfachen Aufforderung, wie zu Hause. Nach dem langen Frühstücksplausch mache ich mich auf zum Rundgang (ohne Pedale) durch die Stadt. Da mir Craig schon am Tag vorher den "Downtown St. John's"-Bereich zwischen Hafen, Water-, und Duckworthstreet in einem halbstündigen Spaziergang gezeigt hat, kann ich mich nun der weiteren Umgebung wie "Signal Hill" und der Ortschaft "Quidi Vidi" (sprich: Kiddy Widdy) samt ihres gleichnamigen Sees widmen.
Auch wenn es ein grauer, teilweise regnerischer Tag ist, die Stadt bietet auch aus der Entfernung viele interessante Perspektiven. Abends kommt dann noch mal die Sonne raus und nach dem Abendessen bei Rebecca hänge ich noch bis nachts um halb drei mit Erik in der Küche ab. Wir reden viel über unsere Jahrespläne (bei ihm geht es im November wieder nach Deutschland) und die damit verbundenen Widrigkeiten und Chancen und natürlich über unsere Erlebnisse in Canada und anderswo. 
Erik muss an diesem Morgen sehr früh zum Flughafen und überlegt, ob er sich überhaupt noch hinlegt und ich plane auch an diesem Tag, dem ersten August, endlich mal Richtung Westen zu fahren. Gutes Datum zum Starten, der 1.8. Andererseits: "it's just a number".
 
 
Fahne der Provinz Neufundland und Labrador
Fahne der Provinz Neufundland und Labrador
Placentia im Nebel
Placentia im Nebel
Typisches Straßenbild in St. John's
Typisches Straßenbild in St. John's
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Blick auf St. John's vom Signal Hill
Blick auf St. John's vom Signal Hill
Aufbruch nach Westen
Aufbruch nach Westen
Kirche von Brigus
Kirche von Brigus
Fischerhütten
Fischerhütten

English Version ________________________________________________________________________

 

The ferry from North Sydney to Argentia chugs a whole night through dense fog. By nightfall, however, there is still a lot of Cape Breton Island to see. Very foggy is also my encounter with Roshni. She is at the port with her bicycle and lightweight luggage. We had a few words in the city and then went separate ways, as Roshni can't find her ticket and must therefore go through another gate to the terminal. With the usual "See you," we say goodbye.
Before the 16-hour crossing to Argentia, there is still work to do: shopping, packing, seperate the sleeping bag from the other baggage ... take a shower (there is actually a shower in the ferry terminal), shaving, and of course do not miss the check-in. But everything runs smoothly - as a cyclist you can skip all the queus here and fix your bicycle in the vessel with the many motorcyclists.

While the motorized fraction fixes their sanctuaries with the usual lashings at the hooks  preserved on the deck, the pushbikers looking for a niche between the oil barrels, lift and cardboards and strap their vehicles in a slightly steeper angle than usual to prevent overturning in rough seas. When I'm done with this, I see Roshnis race bike already fixed in another corner, but we will not meet us in the next hours on the ferry.
I store my luggage in one of the Pullman seat lounges and explore the ship. Later, I listen to a real Newfie (Newfoundland) - entertainer in the bar. The music sounds very Irish, the lyrics are from here and almost everyone is singing along loudly. At 23:00 o'clock the music ends quite early, and I retire in my seat lounge, inflate my sleeping pad and make my bed on the floor to sleep. A quarter of an hour later I'm woken up by the security with the words: "Sir, you are not supposed to lie on the floor here" and afterwards trying to place myself properly in one of the pullman-seats. Unfortunately, the angle between the seat and backrest is very inappropriate for my sensitive back and after several attempts, I reject this location because two other passengers of the "cattle class" have placed themselves in the luggage rack to omit any further discussions with the guards. The shelf is now completely full while the luggage is standing on the floor in front of it. I remember other ferries, where there were some possibilities to sleep in the bar and indeed find a free padded bench between a lot of other sleepers.
The security is not patroling here apparently. The next morning everything is white outside. The ship slows down and arrives with a two hour delay in Argentia. There, too, everything is still immersed in the dense fog. When I get out of the ferry in Argentia, which is named after the port area and not afer a village, there's only a gaping void. No houses, no coffee, no breakfast. The place is located about 10km from Placentia, the next town, and so I drive on without stopping. After the next junction I didn't remember the signs because of a short visit to the tourist information office shortly afterwards and so make my way directly to St. John's, the capital of Newfoundland. The breakfast-opportunity will be after about 35km. A short time later I'm caught up by Roshni and we go together to the TCH (Trans Canada Highway).
The shoulder of the road is wide and so a conversation while riding easily possible. Roshni comes from NY and studied for a year in St.John 's after she went around europe for four years. She invites me to stay in  her flat, when I come to St. John's. There's almost always a vacant room or some space on the couch. I thank her in advance for the offer and announce me for the day after  tomorrow.
Three days later I arrive in "Long's Hill". I am warned that there is no bell, but the door is not closed. So I'll go in and make some noise and asking loud for a response. From somewhere above I hear voices talking to each other, but they're obviously not hearing me. I repeat my calls a bit louder while knocking on the inside of the door frame. Then Lana comes down the stairs, introduces himself and says I must surely be the cyclist from the ferry. Shortly thereafter, Roshni and Craig appears, and together we stow my bike vertically in a pretty cramped shed, which is of course not locked ("let's trust the people of St. John's"), and bring my bags to the second floor of the house. From there one has a wonderful view of her city, the harbor and the "Signal Hill" (somewhat, the landmark of the city). I'm shown to Roshni's room cause she's staying over at Lana's place. And soon I'm introduced to a lot of people which are living here in something like a housing-network.
We come through the garden of Lana's and Marybeth's backyard to their house. Here also lives Craig, who only here for a few days "couch surfing" from Montreal. He lives in the room of someone who has a giant road bike with 30" tires and a huge 5-String E-Bass. Curiously I wonder if that would be a very great man, with whom they live here? In response I get: "No, as tall as you, but he likes big things". So there isn't a giant in the house.
In another house across the street from Lana's place Chad and Rebecca live with Erik from Heidelberg. The latter, as well,  came here over the CouchSurfing network. He is, however, already since last autumn in Canada on the road and already more than a week in the city. Rebecca has started this year to grow vegetables in the backyard. Since St. John's burned down several times over the last few centuries, biologists and other scientists warn not to consume plants grown on this soil. Therefore, the yard is full of buckets, pots, boxes, and even a little self-made greenhouse is found in a corner. Samples of the crops grown there we'll have for a meal in the evening.
We prepare a very colorful salad, a vegetable stew, fried eggplant together with whatever else ends up in the garbage cans of the local supermarkets. The secret is "dumpstering". You browse at night or early in the morning the waste container of the big markets. Palettes of just expired products end up in the fridges and shelves of this homes and of course be immediately consumed or processed. The only thing they have not yet been captured is expired beer.
Sometime after dinner the talk comes to our age. I am of course the Methuselah in the round and Chad remarks with his dry humor: "Age, that's just a number." Thank you Chad, very sympathetic view, somehow typical newfieish.
Roshni lives with her landlords Beverly, her ex-husband Andy and their daughter Erin, who has just spent a year on a sheep farm in Maine and is now back at home to devote herself to pottery. All other residents are either just traveling or living here temporarily anyway. Erin, Beverly and I meet the second day at breakfast in the kitchen. It is a very open and positive atmosphere. After a long breakfast chat I have a walk through the city. Since Craig already showed me the downtown "St. John's" area between the harbor, Water -, and Duckworth Street in a half-hour walk the day before, I will now have a further look to "Signal Hill" and the village "Quidi Vidi" along the eponymous lake. Even if it is a gray, partly rainy day, the city offers many interesting perspectives from a distance. In the evening the sun comes out again and after dinner at Rebecca's place, I hang around with Erik in the kitchen until half past three. We talk a lot about our travel plans (with him going back to Germany in November) and associated adversity and opportunities and of course about our experiences in Canada and elsewhere. Erik has to be very early at the airport and considers if he will go to bed at all, while I plan to continue my roadtrip to the west the next day, the first of August. Good date to start, the 8. 1.. On the other hand: "it's just a number."

 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Ulla (Dienstag, 27 August 2013 12:00)

    Hi, schön, dass du so netten Anschluss gefunden hast, aber fühl dich nicht zu wohl, sonst kommst du nicht mehr zurück. Hier herrscht leichtes Chaos bei den Gitarristen, aber ich bin dran und werd mich nicht unterkriegen lassen. Hübsche Gegend und goldische Häuser und du siehst auch noch nicht verhungert aus. Grins...
    Bis dann, freu mich auf einen neuen Eintrag und neue Bilder

  • #2

    Martina (Donnerstag, 29 August 2013 21:25)

    Hallo Michael, macht immer riesig Spaß, Deine Reiseberichte zu lesen. Freue mich schon auf die nächsten. Machs gut weiterhin. Grüße aus Köln. Langsam aber sicher kündigt sich der Herbst an.